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Literatur

Artikel im Themenheft "Familienklassen" der Zeitschrift Lernen Konkret

 
Gertrud Schneider
Gertrud Schneider
Susanne Heinemann
Susanne Heinemann

 

Förderung von Schülern mit schwerster Behinderung im Kurssystem der Familienklassen

 
Ein Argument für die Gründung unserer Familienklassen, war die Hoffnung, unsere schwerstmehrfachbehinderten SchülerInnen in Zukunft besser bei der Schülerverteilung berücksichtigen zu können. Es sollte uns nun leichter fallen „Ballungen“ z.B. von extrem pflegeaufwändigen Kindern in einzelnen Klassen oder Stufen zu vermeiden und so dem einzelnen Schwerstbehinderten besser gerecht werden zu können. Leider bewahrheitete sich dies nur teilweise: unsere Familienklassen erhöhten zwar die Flexibilität der Schülerverteilung was das Alter betraf, änderte aber nichts an der steigenden Zahl der schwerstmehrfachbehinderten SchülerInnen auch an unserer Schule. Auch sind unsere Familienklassen mit 12 SchülerInnen so groß, dass trotz mancher Verbesserung der Gesamtsituation  doch wieder zu wenig Zeit für den individuellen Förderbedarf der schwerstmehrfachbehinderten SchülerInnen bleibt.
 
Einzelne Klassen fanden durch klassenübergreifende Zusammenarbeit Lösungsansätze, aber prinzipiell ist es weiterhin schwer unseren förderbedürftigsten Schülerinnen gerecht zu werden. So wollen wir einerseits angemessene individuelle Förderangebote machen, andererseits aber ausgerechnet die Schülerinnen, die ohnehin durch Therapien und häufigere Fehlzeiten seltener am Geschehen in der Klasse teilhaben, nicht auch noch zusätzlich aus dem gemeinsamen Unterricht herausziehen. Betont werden sollte, dass die Heterogenität der Familienklassen eher eine Chance für die Beteiligung der schwerstbehinderten Mitschülerinnen darstellt, da bei der Unterrichtsplanung ohnehin nicht von einer homogenen Lerngruppe ausgegangen werden kann.
 
Das Kurssystem für Kulturtechniken der Familienklassen und der Mittelstufe bietet ergänzend ein eigenes Angebot für die schwerstmehrfachbehinderten SchülerInnen. Hier sollen sie nicht einfach während der Kurszeiten „verwahrt“ werden, sondern im Rahmen ihrer Möglichkeiten während der allgemeinen Kurszeiten gefördert werden. Für die Schwerstbehindertenförderung muss kein Klassenunterricht versäumt werden.
 

Räumlichkeiten

Der Schule steht ein mit einem größeren Bällebecken, verschiedensten Lagerungsmöglichkeiten, wie einer höhenverstellbaren Liege, einem breiten Bett und diversen Polstern, einer behindertengerechten Schaukel und verschiedenstem Spielmaterial relativ gut ausgestatteter Raum für Schwerstbehinderte zur Verfügung. Ergänzend gibt es noch einen Pränatalraum und einen Psychomotorikraum, sodass es während der Kurszeiten nicht zu größeren Problemen  mit anderen Stufen bei der Raumnutzung kommt. Wünsche bleiben natürlich immer offen, wie z.B. der nach noch mehr Platz, wenn 4 leere Rollis im Raum herumstehen... Es besteht die Möglichkeit zusätzliches individuelles Material in einem Nebenraum zu lagern. Dies ist zwar lästig, aufgrund der starken Nutzung des Raumes gerade auch durch lebhafte jüngere Kinder aber unumgänglich.
 

Organisatorische Bedingungen

Leider sind die organisatorischen Voraussetzungen für unsere Schwerstbehindertenförderung auch nicht so optimal, wie wir es uns wünschen würden! Prinzipiell steht für jeden unserer Kurse eine Lehrperson zur Verfügung. Der Autistenkurs muss, um erfolgreich arbeiten zu können, unbedingt von zwei Lehrkräften betreut werden. Für den Schwerstbehindertenkurs stehen eine Lehrerin und ein Zivi zur Verfügung. Da nicht immer alle der 8 (!) TeilnehmerInnen da sind, kann ein angemessenes Kursprogramm meist stattfinden. Trotzdem stellt uns die große Schülerzahl eine organisatorische Aufgabe, die wir noch besser lösen müssen. Meist sind  ca.6 SchülerInnen anwesend.
 

Verlauf einer Kursstunde

Die normale Kursstunde dauert ca. 70 Minuten und besteht aus einem gemeinsamen musikalischen Anfang, individueller Lagerung und Angeboten zur individuellen Förderung, wie z.B. basale Stimulation, basale Aktivierung, Förderung der Kommunikationsfähigkeit etc., Anbahnung von Partnerarbeit und schließlich einem gemeinsamen Ausklang.
 

Beispiel einer exemplarischen Kursstunde

Ich möchte an dieser Stelle eine „typische“ Kursstunde schildern. Unnötig zu erwähnen, dass es die „typische“ Kursstunde ohnehin nicht gibt.
 
Eigentlich beginnt der Kurs um 8,45 Uhr, aber es dauert schon eine Weile, bis die Lehrerin es mit 3 Rollstühlen zum „Schwebiraum“ geschafft hat. Hier warten schon Melis und Daniel, die von etwas eiligen Mitschülern gebracht wurden. „Endlich bist du da! Die Melis brüllt schon den ganzen Flur zusammen!“ Tatsächlich geht es Melis heute nicht so gut, was sie durch gewaltiges Geschrei kundtut, was wiederum Annas empfindliche Ohren quält. Das von Zadek mehrfach eingeforderte Singen muss erst mal ausfallen. Wenigstens wird Ina von dem Geschrei so richtig wach! Dann schläft sie mir nicht gleich wieder ein.
 
Eigentlich wird für unseren musikalischen Begrüßungskreis nur Melis sofort gelagert und die restlichen SchülerInnen sitzen im Rolli oder auf Stühlen. Heute jedoch kann von gemeinsamem singen erst mal nicht die Rede sein. Melis muss sofort auf den Arm! Der Zivi müht sich redlich Ina zu lagern und die 2 Streithähne Timo und Zadek auseinander zu halten, während die Lehrerin mit der nun ruhigeren Melis auf dem Arm der immer noch weinenden Anna gut zuredet.
 
Schließlich kehrt Ruhe ein und es kann ein neuer Versuch für den gemeinsamen musikalischen Anfang starten. Gut, dass hier nicht wie in den Familienklassen üblich erst ausdiskutiert werden muss, was wir singen. Das Begrüßungslied stößt allgemein auf Begeisterung. Wer kann begleitet mit einfachen Rhytmusinstrumenten, schwächere Schülerinnen wie Ina erhalten Unterstützung durch den Zivi. Nach den unvermeidlichen „Hits“ folgen jahreszeitlich orientierte Lieder. Auch wenn sich z.B. Zadek das wünschen würde, können wir nicht die ganze Stunde singen, da nun einige Schülerinnen dringend ihren Rolli verlassen müssen. Daniel entscheidet sich wie immer für das Bällebad, wohin ihm Timo sofort folgt. Anna wird nun vorsichtig neben Ina gelagert, die sich sehr über die Gesellschaft freut. Tatsächlich aber können selbst diese eigentlich so ruhigen Mädchen nicht unbeaufsichtigt bleiben, weil jede heftigere Bewegung von Anna bei Ina einen Knochenbruch hervorrufen kann. Die Bewegungsfreude der jüngeren Anna bedeutet für Ina zwar eine Anregung, aber eben leider auch eine gewisse Gefahr.  Auch der 16 jährige Daniel hat im Bällebad nicht nur Freude an dem jüngeren Timo: „Böse, böse!“ ertönt es schon nach kurzer Zeit.
 
Melis genießt bereits das heutige Duftöl und entspannt sich zusehends. Zadek erklimmt selbstständig die Schaukel. Bei dieser Aktivität war ihm in der Vergangenheit der ältere Daniel ein gutes Vorbild.
 
Anna und Ina werden nun Angebote zur basalen Stimulation gemacht, wobei wir die Auswahl aus unserem inzwischen sehr reichhaltigen Material heute auf unterschiedlich harte Pinsel eingeschränkt haben. Ina bräuchte eigentlich viel mehr Zeit sich auf unsere Angebote einzulassen, aber Timo und Daniel streiten nun so lautstark, dass sie  dringend an die Arbeit gebracht werden müssen. Ordentlich auf dem Stuhl sitzend, bei einer schwierigen Zuordnungsaufgabe (Bilderlotto mit Fotos der Kursschüler) unter Aufsicht der Lehrerin bleibt keine Zeit mehr zum Streiten. Auch Zadek zeigt nun Interesse, während es Daniel schon wieder ins Bällebad zieht. Da Anna nun neben Ina zu unruhig wird, bringt der Zivi sie auch ins Bällebad. Der redefreudige Zadek unterstützt nun die Bemühungen der Lehrerin um eine Kommunikationsförderung bei Timo. Melis fühlt sich offensichtlich wieder unwohl und muss noch einmal umgelagert werden. Eigentlich ist Melis heute bei der Einzelförderung deutlich zu kurz gekommen, aber andererseits sind alle froh, wenn sie sich einigermaßen wohl fühlt und nicht schreit. Der Grat zwischen angemessener Förderung und unangenehmer Überforderung ist bei dieser Schülergruppe extrem schmal. Ina wiederum, die nur stundenweise beschult wird und sich trotz ihrer schwachen Konstiution über Abwechselung freut, scheint den Morgen sehr genossen zu haben und nimmt wach und entspannt Anteil an den Geschehnissen. Immer wieder schauen MitschülerInnen in den Pausen zwischen den Kursen vorbei und würden gerne bleiben. Aber schließlich wollen wir alle noch etwas arbeiten.
 
Gegen Ende der Kurszeit stößt die Aufforderung zum aufräumen bestenfalls auf Ignoranz und es dauert eine genze Weile, bis der Raum nicht mehr chaotisch aussieht und alle wieder in den Rollis sitzen. Ina ist so erschöpft, dass ihr die Augen zufallen, während die anderen sich freudig auf den Redeschwall ihrer Mitschüler einlassen, die ebenfalls ihren Kursunterricht beendet haben. Für alle Schüler der Familienklassen steht außer Zweifel, dass ihre schwerstbehinderten MitschülerInnen  ebenfalls einen „richtigen“ Kurs haben.
 
Schließlich steht auch außer Zweifel, dass die schwerstmehrfachbehinderten SchülerInnen gerne zu ihrem Kurs kommen.
 
Für die Lehrerin bleibt noch mancher Wunsch bei der Schwerstbehindertenförderung in den Kursen offen, aber das ist ja in Familienklassen auch nicht anders als anderswo.

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Zuletzt aktualisiert von MME-Computertechnik am 07.04.2006, 21:54:39.