Logo Familienklassen
Literatur

Artikel im Themenheft "Familienklassen" der Zeitschrift Lernen Konkret

 
Susanne Heinemann
Susanne Heinemann
Oliver Spesser
Oliver Spesser

 

Die Realisierung der Familienklassen

Klassenbildung
 
Es begann mit einer „Zumutung“: Das Klassengefüge der TWS musste komplett umstrukturiert werden. Das bisherige, allgemein übliche Stufensystem (Vorstufe bis Werkstufe) wurde um die Familienklassen ergänzt. Das bedeutet nicht weniger, als dass alle bestehenden Klassen der Schule aufgelöst werden mussten. Daraus ergab sich jedoch die Chance extreme Belastungen einzelner Klassen zu vermeiden und einen Neuanfang zu wagen.
 
Die vorbereitende Arbeitsgruppe war zu dem Ergebnis gekommen, dass mindestens drei Familienklassen notwendig sind, um im Familienklassenverbund kooperationsfähig zu sein. Tatsächlich aber wollten so viele Kollegen in Familienklassen arbeiten, dass insgesamt fünf Familienklassen gebildet werden konnten. Von den beschlussfassenden Konferenzen (Lehrerkonferenz, Schulkonferenz) war vorgesehen worden, dass die Familienklassen zunächst probehalber für ein Jahr eingerichtet werden sollten. Danach war eine Evaluation und Entscheidungsfindung vorgesehen.
 
Die Neubildung aller Klassen der Schule erforderte umfangreiche Vorarbeiten. Es wurde notwendig, Schüler bestimmten Gruppen zuzuordnen um unbeabsichtigte Häufungen zu vermeiden, sodass nicht zu viele Schüler derselben Gruppe in einer Klasse sind (vgl. Abbildung 1).
 

·schwerstmehrfachbehinderte Schüler, d. h. körperbehinderte Schüler mit hohem Pflege- und Betreuungsaufwand

(Sch)

·Schüler mit autistischer Behinderung

(A)

·Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten/Erziehungsproblemen

(E)

·Schüler, die im Verhalten unauffällig sind

(U)

·Schüler, die relativ selbständig sind, also wenig Lehrerhilfe benötigen, in der Regel sind dies ältere Schüler

(S)

Abbildung 1

Die Zuordnung zu den einzelnen Gruppen erfolgte durch die jeweiligen Klassenlehrer und war in der weitaus überwiegenden Zahl der Fälle unstrittig. Für jeden Schüler wurde ein Karteikärtchen angelegt, auf dem neben dem Namen das Alter, die Stufenzugehörigkeit des Schülers, die weiterhin erhalten bleibt und die Gruppenzugehörigkeit vermerkt wurde. Zunächst wurden offene „Pools“ jeweils für Vor-, Unter-, Mittel-, Ober- und Werkstufenschüler gebildet, die durch die Auflösung ihrer Klassen „heimatlos“ geworden waren.
 
Der Neubildung der Klassen lagen folgende Überlegungen zugrunde:
  • parallel zu den Familienklassen sollen weiterhin Stufenklassen bestehen und zwar aus jeder Stufe mindestens eine
  • je jünger die Schüler der Stufenklassen sind, um so geringer soll die Schülerzahl sein
  • Familienklassen sollen sich an der durchschnittlichen Schülerzahl der Klassen der Schule orientieren, im Schuljahr der Gründung der Familienklassen waren dies 12
Abbildung 2 veranschaulicht dies:
 

Vorstufe im 1. Jahr

Vorstufe im 2./3. Jahr

Unterstufe

Mittelstufe

Oberstufe

Werkstufe

F-Klassen

8 Schüler

9 Schüler

10 Schüler

11 Schüler

13 Schüler

13 Schüler

12 Schüler

Abbildung 2

 
Die eigentliche Klassenbildung bestand in einem offenen, mehrtägigen Prozess, während dessen Verlauf die Karteikärtchen immer wieder an einer Stellwand zu Klassen gruppiert wurden.
 
Kriterien neben den bereits genannten waren hierbei:
  • Bestehende Freundschaften sollten berücksichtigt werden.
  • Jeder Schüler sollte einen Ansprechpartner auf gleichem Entwicklungsniveau haben.
  • In jeder Familienklasse sollte eine Alters- und Leistungsheterogenität bestehen, mindestens drei verschiedenen Stufen sollten vertreten sein.
Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass neben diesen Kriterien sicherlich auch andere Aspekte eine Rolle spielten, wie Sympathien, Antipathien, taktische Überlegungen usw., auch Lehrer sind schließlich keine Heiligen ...
Trotzdem war der Prozess letzen Endes sehr konstruktiv mit einem Ergebnis, das von allen Kollegen mitgetragen wurde, auch von denen, die anfangs gegen die Einrichtung von Familienklassen gestimmt hatten. Die Arbeit der Familienklassen konnte beginnen.
 
Unsere Zielsetzung war es, dass insbesondere jüngere Schüler und Schüler mit Integrationsproblemen in Familienklassen leichter in den Schulalltag finden und von anderen Schülern soziales Verhalten, Gruppenregeln und den Umgang mit Lern- und Arbeitsmaterialien lernen. Schüler, die mit der Konkurrenz Gleichaltriger Probleme haben, können so in Familienklassen eine andere Situation erleben, ebenso wie Schüler, die unter Gleichaltrigen ständig dominieren. Ältere Schüler profitieren von der Lebendigkeit jüngerer Schüler, sie können ihr Wissen und ihre Fertigkeiten weitergeben und dabei weiter verfestigen. Das gilt besonders dann, wenn sie unter Gleichaltrigen nicht zu den leistungsstärkeren Schülern zählen würden.
Neben diesen Hoffnungen und Erwartungen beschäftigte uns aber nicht zuletzt die Frage: Gelingt es uns, dass aus den neu gebildeten Klassen „wirkliche“ Familienklassen werden?
 
Wie in jeder Familie gab es Hilfe und Ablehnung, gute und schlechte Vorbilder, Zusammengehörigkeitsgefühl und Streit. Hierfür lassen sich viele Beispiele finden:
  • So wird A. von drei Schülerinnen der Klasse „rundum versorgt“. Das bedeutet für sie, dass sie mehr Sozialkontakte als früher hat, manchmal aber auch überbehütet wird. Die Schüler reißen sich förmlich darum, ihr beim Essen zu helfen, sie im Rollstuhl spazieren zu fahren oder sie zu frisieren. Hierbei muss von Lehrerseite noch des öfteren regulierend eingegriffen werden.
  • Als gleichberechtigte „Brüder“ empfinden sich die 10-17jährigen Jungen in einer anderen Klasse. Zitat: „Boah, wir haben ja alle Kappen auf, wir sind alle Kappen-Freunde ... nee, wir sind Kappen-Brüder!“
  • Der 17jährige B. „steht nicht auf kleine Blagen“. Während eines Ausfluges zweier Familienklassen fährt er trotzdem mit dem 11jährigen A. Tretboot und stellt dabei fest, dass „kleine Blagen doch korrekt“ sein können.
  • Der sechzehnjährige H. dagegen empfindet seine jüngeren Mitschüler nur als anstrengend. Ihre kritiklose Bewunderung „geht ihm auf die Nerven“. Er verlässt nach einem Jahr die Klasse.
Die Heterogenität der Schüler erwies sich, wie erhofft, als wichtigster Impuls für die erfolgreiche Arbeit in Familienklassen. Es entwickelte sich eine Eigendynamik mit Synergieeffekten. Manche Verhaltensauffälligkeiten laufen mangels Resonanz ins Leere. Schüler regeln ihre sozialen Belange selbst, jüngere „Geschwister“ werden mit einbezogen, etwa bei der Streitschlichtung, dem gegenseitigen Aufpassen bei Ausflügen und Klassenfahrten, wobei es durchaus nicht immer nur die älteren Schüler sind, die hierbei die aktive Rolle übernehmen. So fühlte sich die achtjährige I. für den 17jährigen M. „verantwortlich“, sie sorgte in liebevoller Weise dafür, dass er aktiv wurde, nicht abseits saß und nicht zu kurz kam. Dabei hat sie selbst davon profitiert im Einsatz für einen anderen ihre Schüchternheit zu überwinden.
Selbstverständlich sind auch Familienklassen keine Inseln der Seligen. Es gibt Konflikte, bei denen die Lehrer eingreifen müssen. Auch in Familienklassen werden Verstärkerpläne angewendet und der Trainingsraum benutzt (siehe entsprechende Artikel in diesem Heft).
 

Evaluation

Wie bereits eingangs erwähnt, war von Anfang an eine Evaluation vorgesehen, damit wir uns einen genaueren Überblick über die Entwicklungen in den einzelnen Familienklassen verschaffen können. Das Ergebnis dieser Evaluation sollte die Entscheidungsgrundlage für die Fortführung bzw. Beendigung der Arbeit in Familienklassen sein.
In einer Familienklassenkonferenz wurde eine Evaluationsgruppe eingesetzt, die sich aus mindestens einem Vertreter jeder Familienklasse zusammensetzte. Wir fragten uns selbstkritisch, ob sich unsere Erwartungen erfüllt hatten.
 
Zu Fragen, deren Schwerpunkt im sozialen Lernen lag, wie: „Inwieweit hat sich das Verhalten von  Schülern, die mit der Konkurrenz Gleichaltriger Probleme haben, verändert?“ oder „Inwieweit hat sich das Verhalten von Schülern, die unter Gleichaltrigen ständig dominiert haben, verändert?“, erstellten wir für jeden der 61 Schüler insgesamt jeweils vier Diagramme in Form von Spinnennetzen, anhand derer wir die individuelle Entwicklung im Klassenverband beurteilen konnten. Ein Beispiel für eins dieser Diagramme findet sich in Abb. 3. Da uns zum vorherigen Verhalten noch keine Diagramme vorlagen, verglichen wir die Diagramme mit den uns bereits vorliegenden Berichten, zukünftig sollen die Diagramme in einem einjährigen Rhythmus jeweils neu erstellt werden. Im Mittelpunkt unseres Interesses standen Schülergruppen wie Schüler der Vorstufe, Schüler der Unterstufe, Schüler mit Verhaltensauffälligkeiten, Schüler mit Autismus, Schüler mit schwerster Körperbehinderung sowie Schüler im Grenzbereich zur Lernbehinderung.
 
Literatur Abbildung 3
Abbildung 3
 
Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass sich insbesondere bei jüngeren Schülern (Schüler der Vorstufe/Unterstufe) eine Tendenz zur Verbesserung des Verhaltens ergeben hat. In zwei Fällen, bei Schülern der Mittel- bzw. Oberstufe, hatte sich das Sozialverhalten eher verschlechtert. Für eine große Zahl von Schülern ergab sich allerdings keine gravierende Veränderung des Sozialverhaltens.
 
Weitere Fragestellungen bezogen sich auf Unterrichtsziele, Förderziele und die Entwicklungsgemäßheit der Angebote in Familienklassen. So fragten wir uns z. B.: „Inwieweit profitieren ältere Schüler davon, dass sie ihr Wissen und ihre Fertigkeiten weitergeben und dabei weiter verfestigen können (besonders leistungsschwächere ältere Schüler!)?“ und „Hat jeder Schüler einen Ansprechpartner,  der seiner Entwicklung entspricht?“
 
Der Effekt der Verfestigung des Wissens von älteren, leistungsschwächeren Schülern durch seine Weitergabe an jüngere Schüler konnte in Familienklassen durchaus beobachtet werden. Was die zweite Frage betrifft, so musste festgestellt werden, dass nicht jeder Schüler hat einen Ansprech- oder Spielpartner in seiner Klasse hatte, der seiner Entwicklung entsprach. Diese Situation konnte durch Veränderungen der Klassenzusammen­setzungen im Schuljahr 03/04 verbessert werden.
 
Als Gesamtergebnis der Evaluation ergab sich, dass die Klassen arbeitsfähig und insgesamt erfolgreich in ihrer pädagogischen Arbeit waren. Anhand der Evaluation wurde u.a. festgestellt, dass es sinnvoll ist, eine größere Zahl jüngerer Kinder in die Familienklassen aufzunehmen. Diese Bestrebung hat die Strukturen der F-Klassen noch einmal deutlich verändert. So wurden z. B. innerhalb von einzelnen Klassen und im Verbund von Partnerklassen mehr Angebote für jüngere Kinder zur Verfügung gestellt.
 
Die gewonnenen Daten, Ergebnisse und Schlussfolgerungen sowie Änderungen an der Konzeption der Familienklassen wurden der gesamten Lehrerkonferenz der TWS vorgestellt. Das Plenum beschloss nach konstruktiver Diskussion die leicht veränderte Familienklassenkonzeption dauerhaft ins Schulprogramm aufzunehmen und Familienklassen fest zu etablieren.
 
Die eingangs gestellte Frage „Gelingt es uns, dass aus unseren Klassen wirkliche Familienklassen werden?“ können wir mittlerweile bejahen. Im Alltag erfordert dies allerdings unterschiedliche Organisationsformen des Unterrichts, von denen einige in diesem Heft vorgestellt werden deshalb gehen wir hier nicht weiter darauf ein. Erwähnt werden soll nur noch, dass unser System von Arbeitsgemeinschaften (Ags) jetzt auch Angebote für jüngere Schüler bereitstellt und dass natürlich Veränderungen der Vorhaben- und Projektplanung nötig sind.
 
Ein klassisches Werkstufenthema wie „Wohnen“ kann auch in einer Familienklasse für alle thematisiert werden, denn wie konkrete Beispiele zeigen, kann dieses Thema auch für jüngere Schüler aktuell werden. Bei anderen Themen, wie etwa der Sexualerziehung ist wiederum eine äußere Differenzierung sinnvoll, nicht unerheblich ist hierbei auch die Zusammenarbeit von Partnerklassen.
 
Trotz vieler organisatorischer Aspekte ist für uns aber das Zusammenleben und -lernen der eigentliche Schwerpunkt unserer Arbeit. Familienklassen sind für uns eine echte Alternative zu Jahrgangsklassen geworden.

Druckansicht

Bitte hier einloggen: Log In

Zuletzt aktualisiert von MME-Computertechnik am 07.04.2006, 20:17:40.