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Literatur

Artikel im Themenheft "Familienklassen" der Zeitschrift Lernen Konkret

 
Eva Hembach
Eva Hembach
 

 

Das Kurssystem der Familienklassen

Vermittlung von Kulturtechniken in leistungsdifferenzierten Lerngruppen
 

Hintergrund des Kurssystems

Die Vermittlung von Kulturtechniken in einer Klasse der Schule für Geistigbehinderte stellt infolge der sehr unterschiedlichen kognitiven Leistungen der SchülerInnen hohe Ansprüche an Differenzierungsmaßnahmen – und dies bereits in altershomogenen Klassen. Häufig wird die Klasse aufgeteilt und von den LehrerInnen parallel, niveaudifferenziert unterrichtet. Familienklassen zeichnen sich nicht nur als leistungs- sondern zusätzlich als altersheterogene Lerngruppen aus. Dieses „Mehr“ an Heterogenität wirkt sich zwangsläufig auf die Planung und Durchführung von Unterricht aus. Während in einigen Lernbereichen wie z.B. Vorhaben und Projekten eine Binnendifferenzierung durchaus allen SchülerInnen in ihren Lernbedürfnissen gerecht wird, ist dies im Bereich der Kulturtechniken nicht der Fall.
 
So benötigt z.B. in der F1 die 10-Jährige Schülerin Badri noch kindgerecht aufbereitete Angebote im Bereich Pränumerik, während der 13-Jährige René auf eine Einführung in den Zahlenraum bis 20 fiebert und der 19-jährige Sven-Olaf die Division kennen lernen soll.
 
Das ist ein Spagat, der binnendifferenziert kaum zu bewältigen wäre und auch in äußerer Differenzierung innerhalb des Klassenverbandes noch Schwierigkeiten bereiten würde.
 
Bei der Vermittlung von Kulturtechniken handelt es sich um einen steten, aufeinander aufbauenden Prozess. Somit besteht allein durch das Alter der SchülerInnen eine sehr ungleiche Lernausgangslage. Gerade bei den jüngeren SchülerInnen muss auch im Rahmen der Familienklassen gewährleistet sein, dass sie diesen Prozess von Anfang an und genauso intensiv wie in altershomogenen Lerngruppen durchlaufen können.
 
Vor dem Hintergrund dieser Problemlage wurde bei der Planung der Familienklassen eine klassenübergreifende Kooperation im Konzept verankert, die eine sinnvolle Differenzierung im Bereich der Kulturtechniken ermöglicht (vgl. Konzept S. 2f). Bereits vorher wurde an der TWS in Form von sog. Kursen klassenübergreifend kooperiert. Die Familienklassen nutzen somit bereits vielen SchülerInnen wie auch LehrerInnen vertraute Strukturen, die in diesem Rahmen noch sinnvoller scheinen als bereits zuvor. Mit der Einführung der Familienklassen wurde das Kurssystem jedoch wesentlich erweitert, da sich mehr Klassen beteiligen. Der Vorteil davon ist eine größere Zahl an Kursen, womit eine größere Bandbreite an Lernstufen abgedeckt werden kann.
 
Ziel des Kurssystems ist es, die Vermittlung von Inhalten zu erleichtern, individuell angemessene Lernangebote zu ermöglichen und somit Lernfortschritte zu optimieren.
 

Organisation des Kurssystems

Das Team-Kleingruppen-Modell

Die klassenübergreifende Kooperation erfolgt im Team-Kleingruppen-Modell (vgl. Meyer 1994, S. 140). Am Kurssystem der Familienklassen nehmen 5 komplette Klassen (F1-F4 und M1) teil, aus denen jeweils 2 LehrerInnen im Kurs unterrichten. Aus der F5 kommen zusätzlich 6 SchülerInnen in die Kurse. Die teilnehmenden SchülerInnen sind zu einer Großgruppe zusammengefasst und dann in annähernd homogene Leistungsgruppen aufgeteilt. Diese Kleingruppen werden von jeweils 1 Lehrkraft aus dem LehrerInnen-Pool der teilnehmenden Klassen unterrichtet.
 
Insgesamt werden 65 SchülerInnen von 11 LehrerInnen sowie 2 Lehramtsanwärterinnen unterrichtet. Daraus ergibt sich eine Schüler-Lehrer-Relation von minimal 5:1 (Gebärdenkurs) bzw. 7:2 (Autistenkurs) und maximal 8:1. Durchschnittlich besuchen 6-7 SchülerInnen einen Kurs. Ein Zivildienstleistender ist durchgängig dem Kurs für schwerstbehinderte SchülerInnen zugeordnet. Daneben sind die Zivis der teilnehmenden Klassen dafür zuständig, SchülerInnen zu den Kursen zu bringen, die dies nicht alleine bewältigen können und z.B. im Rollstuhl sitzen.
 
Bei Ausfall einer Lehrkraft findet der jeweilige Kurs nicht statt. Die SchülerInnen werden nach einem offiziellen Vertretungsplan auf die übrigen Kurse verteilt. Dadurch ist der Kursunterricht bei bis zu zwei ausfallenden Lehrkräften gewährleistet. Die SchülerInnen werden bereits von den KlassenlehrerInnen in ihre Vertretungskurse geschickt. Bei mehr als zwei ausfallenden Lehrkräften findet Klassenunterricht statt. Der Informationsaustausch zwischen Klassen- und Kurslehrern findet informell statt. Dies erfolgt z.B. vor Elternsprechtagen. Aufschlussreich hinsichtlich des aktuellen Lernstand ihrer SchülerInnen ist für die KlassenlehrerInnen eine Einsicht in die Mappen mit den aktuellen Arbeitsblättern der Kurse. Zum Erstellen der Zeugnisse werden von den Kurslehrern fertige Texte an die Klassenlehrer weitergeleitet.
 

Zeitliche, räumliche und materielle Bedingungen

Die Kurse finden zweimal in der Woche dienstags und donnerstags vormittags für jeweils einen Unterrichtsblock statt (dienstags von 10.45 Uhr bis 12.00 Uhr sowie donnerstags von 8.45 bis 10.00 Uhr). Es existieren je 7 niveaudifferenzierte Kurse in den Lernbereichen „Lesen und Schreiben“ bzw. „Menge und Zahl“. Die beiden Lernbereiche werden nacheinander für jeweils 25 Minuten unterrichtet. Zwischendurch haben die SchülerInnen eine kurze Pause, um ggf. die Kurse bzw. Räume zu wechseln. Es ist somit möglich, dass der Schüler Horst den leistungsstärksten Kurs im Bereich „Menge und Zahl“ und danach einen schwächeren Kurs im Bereich „Lesen“ besucht.
 
Alternativ dazu gibt es Kurse für SchülerInnen mit Autismus, mit Schwerstmehrfachbehinderung (mit einer zusätzlichen Körperbehinderung) und einen Gebärdenkurs. Diese  3 Lerngruppen bleiben in der gesamten Kurszeit (1 ¼ Stunde) zusammen und wechseln zwischendurch nicht, um ein intensiveres und kontinuierliches Lernen zu ermöglichen und die Schüler durch die Wechselsituation nicht zu überfordern.
 
Die Belegung der Räume während der Kurszeit ist sehr dicht, so dass Nebenräume, aber auch der Kunstraum oder ein Lichthof mitbenutzt werden. Daraus ergibt sich, dass die  Bedingungen nicht in allen Kursen optimal sind (kleine Tafel, wenig Platz, keine Lüftungsmöglichkeit...). Mit den SchülerInnen mit speziellen Lernbedürfnissen werden zudem der Schwerstbehindertenraum und die Aula genutzt.
 
Über Lehrmittel wie z.B. verwendete Leselehrgänge wird von den LehrerInnen in jedem Kurs individuell entschieden. In der Lehrerbibliothek existieren Unterrichtsmaterialien und in den Klassen vorhandene oder privat angeschaffte Materialien (z.B. Arbeitsblätter) werden z.T. informell ausgetauscht. Erstmals im Schuljahr 2003/04 stehen den Kursen pro Schüler 5 Euro Lehrmittelgeld zur Verfügung (also je 2,50 Euro pro Lese-und Rechenkurs), die aus dem Klassenbudget abgezogen werden. Die Kurslehrer können hiervon selbstverantwortlich Materialien anschaffen, die in ihrem Kurs benötigt werden.
 

Kursbildung

Jeweils zu Beginn des Schuljahres findet in der Familienklassenkonferenz das Kursbildungsverfahren statt. Die SchülerInnen werden hinsichtlich ihrer Lernausganglage eingeschätzt und zu annähernd homogenen Gruppen zusammengefasst. Die Einschätzung erfolgt durch die bisherigen Kurs- bzw. Klassenlehrer, bei neuen SchülerInnen durch Zeugnisse oder VO-SF.
 
Die ersten  Wochen nach Kursbildung sind als Testphase zu verstehen. In dieser Zeit haben die SchülerInnen die Möglichkeit, in einen anderen Kurs zu wechseln, der ihrem Lernniveau angemessener ist als der bis dahin besuchte. Der Austausch und Beschlüsse zweier KurslehrerInnen hinsichtlich des Wechsels eines Schülers in einen leistungsstärkeren oder –schwächeren Kurs erfolgt informell wie auch in der Stufenkonferenz.
 
Die Kursbildung erfolgt zwar primär nach Lernstand der SchülerInnen, jedoch werden gruppendynamische und individuelle Aspekte berücksichtigt. Spezielle Lernbedürfnisse einzelner Schüler oder Schülerkonstellationen, die von vorne herein als problematisch bekannt sind, werden in der Kurszusammensetzung nicht aus den Augen gelassen. Richtziel dabei ist neben der Schaffung leistungshomogener auch die Zusammenstellung arbeitsfähiger Gruppen.
Das Kurssystem zeichnet sich durch eine gewisse Offenheit und Durchlässigkeit aus. Parallel zu den Familienklassen führen auch die Vor-/Unterstufen Kurse durch.
 
Der 11-jährige Schüler Daniel, dem von seinen Lernbedürfnissen her im Familienklassensystem kein angemessenes Angebot gemacht werden kann, wechselt für diese Zeit in einen Vor-/Unterstufenkurs. Dafür werden die leistungsstarken Schüler Mehmet und Nadja aus der Unterstufe im F-Klassen-Kurs unterrichtet. Damit kann gewährleistet werden, dass allen Schülern ein adäquates Lernangebot auf der individuellen Lernausgangslage gemacht werden kann.
 

Kursinhalte

Die Kurse sind nach Leistungsniveau gestaffelt.
 

Lernbereich „Lesen und Schreiben“

Kurs 1: Lesen und freies Schreiben von Texten
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien:
Vorhaben „Wir drehen einen Film“, Video, Szenisches Darstellen, Team- und Partnerarbeit, Arbeitsblätter, Plakate,
Kurs 2: Lesen kurzer Texte
Leistungsniveau: Vollständige Buchstabenkenntnis, sinnentnehmendes Lesen einfacher, kurzer Texte,
Inhalte des Kurses: Lesen kurzer Geschichten, Beantworten einfacher  Fragen zum Text, Ergänzen bekannter Sätze
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: einfache Sach- und Bildergeschichten, Bilderbücher aus dem nächsten Umfeld, Rezepte aus dem Kochunterricht
Kurs 3: Lesen von einfachen Wörter
Leistungsniveau: Buchstabenkenntnis fast vollständig, Zusammenschleifen von Buchstaben zu einfachen Wörtern
Inhalte des Kurses: aufgrund der Frustrationserlebnisse der älteren Schüler in diesem Kurs Eigenlesebucherstellung nach individuellen Interessen, Filmerstellung zur Verbesserung der gesprochenen Sprache
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Zeitschriften, Prospekte, Comics zur Eigenlesebucherstellung; Drehbuch (Blätter mit Bildern und einzelnen Worten) und Requisiten zur Filmerstellung
Kurs 4: Lesen von einfachen Wörtern und Sätze
Leistungsniveau: Buchstabenkenntnis fast vollständig, Lesen von Silben, einfachen geübten Wörtern sowie von Sätzen bis 5 Wörter
Inhalte des Kurses: Zusammensetzen von Silben, Wortlücken füllen, bestimmte und unbestimmte Artikel, Bild-Wort-Zuordnung, kleine Diktate
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Lesebuch „Lesen kann man überall“ Bd. 1; Arbeitsblätter, Wortfindungsspiele
Kurs 5: Lesen und Schreiben einfacher Silben und Wörter
Leistungsniveau: Buchstabenkenntnis fast vollständig; Lesen und Schreiben einfacher Silben und Wörter
Inhalte des Kurses: Erlernen und üben von Diphthongen (Ä/ä, Ö/ö, Ü/ü); Zusammensetzen von Buchstaben zu Silben und Silben zu Wörtern, Bestimmung von An-/In-/Ablaut, Bild-Silben- bzw. Bild-Wort-Zuordnung
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Wortspiele wie „Wörter würfeln“ oder Bingo, Arbeitsblätter, Arbeit mit Bild-, Wort- und Silbenkarten
Kurs 6: Ganzwort- und Buchstabenlesen
Leistungsniveau: Erlernen und Festigen von Ganzwörtern, Buchstaben größtenteils unbekannt, erste Synthese in Ansätzen
Inhalte des Kurses: Üben von Ganzwörtern zu ausgewählten Wortfeldern (z.B. Fußball), Wort-Bild-Zuordnungen, Sortieren von Silben
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Lernspiele wie „Lesekönig“, Arbeitsblätter, Arbeit mit Bild-, Wort- und Silbenkarten,
Kurs 7: Erlernen von Buchstaben
Leistungsniveau: Kenntnis von 12 Buchstaben/Anlauten, zugehörig 12 Anlautwörter mit entsprechenden Bildern sowie 12 lautunterstützende Gesten
Inhalte des Kurses: Übungen Zuordnung Anlaut-Wort, Anlaut-Bild, Anlaut-Geste, Bild-Geste,  usw.
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Erarbeitung an der Tafel (mit verschiedenen Materialien wie Bildern, Buchstaben usw.), auch hier: Schüler sind Lehrer, Arbeitsblätter (Buchstaben und Wörter schreiben, Zuordnung Anlaut-Wort, Anlaut-Bild, Anlaut-Geste, Bild-Geste,  usw.)
 

Lernbereich „Menge und Zahl“

Kurs 1: Zahlenraum bis 100 I
Leistungsniveau: alle Grundrechenarten im Zahlenraum bis 100
Inhalte des Kurses: Schwerpunkt Multiplikation („kleines 1x1“), Anbahnung der Division
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Arbeitsblätter, Rechenspiele, Partnerarbeit
Kurs 2: Zahlenraum bis 100 II
Leistungsniveau: Rechenoperationen im Zahlenraum bis 100 z.T. mit konkreten Mengen; alle bisher erarbeiteten Rechenoperationen müssen immer wieder angeboten und wiederholt werden
Inhalte des Kurses: schwerpunktmäßig Multiplikation („kleines 1x1“) bis 5; Addition, Subtraktion, Zahlenreihen
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Partner- und Gruppenspiele, Bingo, Arbeitsblätter, Rechenpuzzle und –domino, einfache Sachaufgaben
Kurs 3: Zahlenraum bis 100 III
Leistungsniveau: Addition und Subtraktion im Zahlenraum bis 100; Zehnerüberschreitung
Inhalte des Kurses: schwerpunktmäßig zehnerüberschreitende Addition; Rechnen mit Geld (Preisvergleiche), Uhr, Messen, Umgang mit dem Taschenrechner
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Einsatz von Arbeitsblättern, Realmedien (Geld, Uhr), Unterrichtsgänge (Geschäfte zur Ermittlung von Preisen)
Kurs 4: Zahlenraum bis 100 IV
Leistungsniveau: Rechenoperationen mit glatten Zehnern bzw. ohne Zehnerüberschreitung
Inhalte des Kurses: Addition, Subtraktion, Zerlegungsaufgaben, Bildung von Zahlenreihen
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Arbeitsblätter, Rechenspiele mit Schubi-Schulwürfeln, Kopfrechnen, Wettrechnen
Kurs 5: Zahlenraum bis 20
Leistungsniveau: Zahlenfolge bis 20, Rechenoperationen bis 10 bzw. 20
Inhalte des Kurses: Vorgänger und Nachfolger in der Zahlenreihe, Addition, Subtraktion ohne Zehnerüberschreitung, Zerlegungsaufgaben
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Rechnen mit Hilfsmitteln, Gruppenspiele wie Eckenrechnen, Würfelspiele, Arbeitsblätter
Kurs 6: Zahlenraum bis 10
Leistungsniveau: Rechenoperationen bis 10
Inhalte des Kurses: Zahlenreihe, Addition, Subtraktion vorwiegend mit bildlicher Darstellung
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Lernspiele wie Smarties-Rechnen, Würfelspiele, Arbeitsblätter
Kurs 7: Zahlenraum bis 10
Leistungsniveau: erste Rechenoperationen bis 10
Inhalte des Kurses: Erarbeitung des Zahlenraumes bis 20 (Zahlenkenntnis, Abzählen), Addition mit Hilfsmitteln bis 10
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Frontalphasen zur Erarbeitung an der Tafel (mit verschiedenen Materialien, wie Mengenbilder, Zahlen usw.), Schüler sind Lehrer, Lernspiele (Würfelspiele, Dominospiele usw.), Arbeitsblätter (Mengen stempeln, Zahlen schreiben usw.)
 

Weitere Lerngruppen:

Kurs 8: Gebärdenkurs
Leistungsniveau: Erweiterung des Wortschatzes sowie der kommunikativen Fähigkeiten mit Hilfe von Gebärden und Bildmaterial
Inhalte des Kurses: Bild- und Symbollesen, Erarbeitung von Satzmustern, Pränumerik (1:1-Zuordnung, Mengenvergleiche, ...).
 
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: Arbeit mit einem Gebärdenbuch, mundmotorische, rhythmische und allgemeine Sprachübungen,  Arbeitsblätter, mit Bewegung verknüpfte Spiele, Lieder
Kurs 9 für SchülerInnen mit Autismus
Leistungsniveau: der Kurs richtet sich an Schüler mit dem Förderschwerpunkt Autismus
Inhaltliche, methodische und didaktische Schwerpunkte: In einem räumlich und zeitlich stark strukturierten Rahmen sowie ritualisiertem Ablauf werden die Schüler in den Bereichen Kommunikation, Wahrnehmung, Handlungskompetenz und soziales Lernen gefördert.
Kurs 10 für SchülerInnen mit einer Schwerstmehrfachbehindertung
Leistungsniveau: der Kurs richtet sich an SchülerInnen mit einer körperlichen und schweren geistigen Behinderung
Inhalte des Kurses: basale Stimulation/ Aktivierung, Förderung der Kommunikationsfähigkeit, Entspannungsangebote
Methodische und didaktische Schwerpunkte, Medien: gemeinsamer Singkreis, individuelle Lagerung und Wahrnehmungsförderung, Entspannung mit Musik, Massage, Anbahnung der Beschäftigung mit Puzzles, Knete, Steckspielen, Bausteinen, Bilderbüchern, Musikinstrumenten
 

4 Vor- und Nachteile des Kurssystems

4.1 Positive Aspekte des Kurssystems
Im Verhältnis zur Vermittlung von Kulturtechniken innerhalb des Klassenverbandes bietet das Kurssystem eine Menge von Vorteilen. Diese beziehen sich neben der reinen Vermittlung auch auf eine ganzheitliche Förderung der SchülerInnen sowie auf die Situation der Lehrerinnen:
 
Erleichterung und Intensivierung in der Vermittlung der Inhalte
 
Die Arbeit in kleinen Lerngruppen erleichtert SchülerInnen und LehrerInnen die Auseinandersetzung mit  den Lerninhalten. Die SchülerInnen erhalten in diesem kleinen Rahmen eher die für sie notwendige Zuwendung als in der Großgruppe.
 
Jeder Schüler erhält ein Angebot auf seiner individuellen Lernausgangslage. Analog zur großen Zahl an Kursen ist die Palette der  unterschiedlichen Lernangebote sehr breit.
 
Die Einführung neuer Lerninhalte sowie die konstante Weiterarbeit im Bereich der Kulturtechniken ist mit einer Gruppe auf einem annähernd gleichen Lernniveau in anderer intensiverer Form als in einer heterogenen Gruppe möglich. Auch die Methodik kann den Bedürfnissen der homogenen Lerngruppe angepasst werden (z.B. Arbeiten an einem Lehrgang, Lernspiele).
 
Im Kurs sind alters- bzw. entwicklungspezifische Angebote möglich, die in den altersheterogenen Familienklassen z.T. zu kurz kommen. So richtete sich der Gebärdenkurs v.a. an jüngere SchülerInnen, bei denen kindgemäßer gearbeitet und ein grundlegendes Arbeitsveralten angebahnt wird. Oder der Lesekurs 1 wird von Jugendlichen in der Pubertät besucht und entsprechend werden deren alterspezifische Interessen wie „Bravo“ oder „Film“ berücksichtigt.
 
Förderung der SchülerInnen in ihrer Gesamtpersönlichkeit
 
Neben der Vermittlung der Kulturtechniken sollen die SchülerInnen im Rahmen des Kurssystems ganzheitliche Förderung erfahren. Durch den organisatorischen Rahmen lernen die SchülerInnen, mit neuen Situationen und Veränderungen umzugehen und sich auf andere Gruppen und LehrerInnen einzulassen. So geht der Autist Wesley inzwischen gerne in seinen Kurs, hält sich dort in der Gruppe auf und arbeitet mit neuen Materialien, während er sich anfangs weigerte, den Raum zu wechseln und mit Arbeitsverweigerung, Schreien, Spucken und Beißen reagierte. Hierbei wird auch die Flexibilität erweitert, sich mit unterschiedlichen Regeln der Systeme Klasse und Kurse auseinander zu setzen und diese einzuhalten.
 
Durch den Raumwechsel werden schwächere SchülerInnen in ihrer lebenspraktischen Selbständigkeit und räumlichen Orientierungsfähigkeit gefördert, indem sie die Wege schrittweise selbständig bewältigen.
 
Die SchülerInnen lernen, Verantwortung für sich zu übernehmen, indem sie ihre Arbeitsmaterialien wie Mappen und Stifte eigenverantwortlich mit in ihren Kurs bringen sollen. Darüber hinaus lernen sie, Hausaufgaben oder Aufgaben für die Freiarbeit auch ohne Erinnerung durch die KlassenlehrerInnen zu erledigen.
 
Ziel im Kurssystem ist auch die Stärkung des gesamten Selbstbewusstseins und Selbstwertgefühls der SchülerInnen. Da sie sich im Kurs nicht mit leistungsstärkeren SchülerInnen vergleichen müssen, werden Lernfortschritte von vielen SchülerInnen mit Stolz wahrgenommen. SchülerInnen, die durch Misserfolgserlebnisse Ängste oder eine Abwehrhaltung gegenüber den Kulturtechniken entwickelt haben, können im richtigen Kurs schrittweise ihr Selbstvertrauen zurückgewinnen.
 
Viele SchülerInnen kommen, beflügelt durch die Erfolgserlebnisse im Kurs, zufrieden in die Klasse zurück, was sich auch auf die Gesamtatmosphäre in der Klasse auswirkt.
 
So wirkt Sezayi nach dem Kurs besonders ausgeglichen,  freut sich über seine Lernerfolge, präsentiert dort stolz seine Arbeitsergebnisse und arbeitet mit Lerneifer zu Hause an seinen Hausaufgaben weiter.
 
 
Arbeitserleichterung und Arbeitszufriedenheit der LehrerInnen:
 
Durch den annähernd gleichen Lernstand der SchülerInnen innerhalb eines Kurses ist eine gezieltere, tiefergehende  und umfassendere Aufbereitung der Inhalte möglich. Die Herstellung und der Einsatz von Medien ist ökonomischer als in heterogenen Gruppen. Das bedeutet zwar nicht, dass der Arbeitsaufwand zur Vorbereitung geringer ist, jedoch wird diese Art der Vorbereitung von vielen LehrerInnen entlastend erlebt.
 
Der Kursunterricht erleichtert die Arbeit in den Klassen, da die Erarbeitung neuer Lerninhalte nicht in der heterogenen Gesamtgruppe stattfinden muss, sondern im Kurs eingeführte Lerninhalte in der Klasse zum Üben aufgegriffen werden können (z.B. in der Freiarbeit).
 
Die Arbeit im Kurssystem kann für Kurs- wie auch für Klassenlehrer ein entscheidender Aspekt für die Psychohygiene der LehrerInnen sein. Im Klassenunterricht ist es häufig der Fall, dass das „schlechte Lehrergewissen“ plagt, nicht allen SchülerInnen gerecht werden zu können.
 
Dahingegen erhalten in der Kurszeit alle SchülerInnen ein individuell angemessenes Angebot und infolge der Kleingruppensituation bekommt dort jeder Schüler annähernd die Zuwendung, die er braucht.
 
Spezielle Kompetenzen im Kollegium wie z.B. im Bereich Autismus, Gebärden oder auch Mathematik/freies Schreiben mit SchülerInnen an der Grenze zur Lernbehinderung können in den Kursen genutzt werden. Ressourcen können hiermit ökonomisch und gewinnbringend für die gesamten Familienklassen genutzt werden. KollegInnen in den Klassen erfahren hierdurch Entlastung, weniger „fachfremdes“ Arbeiten ist notwendig und nicht zuletzt steigt die Arbeitszufriedenheit durch das Einbringen eigener Interessenschwerpunkt.
 
4.2 Nachteile des Kurssystems
Es wird deutlich, dass ein Kurssystem zur Vermittlung von Kulturtechniken an der Schule für Geistigbehinderte viele Vorteile mit sich bringt. Zweifelsohne kann das Kurssystem in einigen Punkten auch kritisch betrachtet werden.
 
Durch die Aufteilung der Klassen in Kurse in jeweils einem Unterrichtblock an 2 Tagen in der Woche (insgesamt 4 Unterrichtsstunden) steht weniger Unterrichtszeit im Klassenverband z.B. für Vorhaben zur Verfügung. Generell erzeugt die zeitliche Festlegung eine geringere Flexibilität der Klassen, was z.B. die Durchführung von Ausflügen angeht. In den Sommermonaten, in denen Klassenfahrten stattfinden, müssen die Kurse aufgrund der fehlenden LehrerInnen häufig auch für die daheimgebliebenen Klassen ausfallen.
 
Zudem müssen für den Kursunterricht insgesamt 8 Lehrerstunden aus dem Gesamtbudget der Klassenstunden aufgewendet werden, so dass die restliche Zeit im Klassenunterricht häufig nicht mehr in Doppelbesetzung stattfinden kann. Dies wäre jedoch auch der Fall, wenn Kulturtechniken sinnvoll differenziert im Klassenverband stattfinden würden.
 
Der Wechsel der Räume und Lerngruppen erzeugt eine gewisse „Unruhe“ im Tagesablauf. Für einige SchülerInnen stellt dies eine hohe Anforderung dar. Sie benötigen mitunter mehrere Monate, um sich an die veränderte Situation oder Gruppe zu gewöhnen. Spiegelt sich dies in unruhigem oder auffälligem Verhalten wider, bedeutet dies auch einen vermehrten Stress für die LehrerInnen.
 
Auch wenn alle SchülerInnen in einem Kurs untergebracht sind, so stellt sich die Frage, ob für einzelnen SchülerInnen ein Angebot im Bereich der Kulturtechniken noch angemessen ist. So gibt es ältere schwache SchülerInnen, bei denen im Rahmen der Kulturtechniken kein Lernzuwachs mehr zu beobachten ist.
 
Problematisch kann sein, dass die KlassenlehrerInnen die Lernentwicklung der Schüler nicht im eigenen Unterricht erleben können und diese somit z.B. als Lernausgangslage für Vorhaben oder Freiarbeit nicht immer detailliert kennen. Der Austausch mit den KurslehrerInnen ist meist nicht durchgängig gewährleistet.
 
Generell ist der Arbeits- und Organisationsaufwand nicht nur für Absprachen und Austausch, sondern besonders auch für die Kursbildung sehr komplex und zeitaufwendig.

5 Reflexion und Ausblick

5.1 Evaluation des Kurssystems
Das Kurssystem wird aktuell evaluiert. Ziel der Evaluation stellt die Optimierung dar. Die Evaluation wird unter folgender Leitfrage durchgeführt:
 
In welchem Maße und unter welchen Bedingungen kann Kursunterricht dem individuellen Förderbedarf der SchülerInnen gerecht werden?
 
Zur Beantwortung der oben genannten Kernfrage ist es notwendig, Informationen über folgende das Kurssystem betreffende Bereiche und Fragen zu sammeln.
  • Arbeitszufriedenheit und Lernentwicklung der SchülerInnen´
  • Motivation
  • Befindlichkeit
  • Selbstwertgefühl
  • Lernfortschritte
  • Sozialverhalten
  • Lern- und Arbeitsverhalten
  • Schülerbezogenheit bzgl. Medien / Inhalten / Lehrersprache
  • Situation im Schwerstbehindertenkurs
  • Befindlichkeit der SchülerInnen
  • Grad der Zuwendung durch die LehrerInnen
  • Arbeitszufriedenheit der LehrerInnen
  • Belastung / Entlastung
  • spezielle Qualifikationen und Neigungen
  • Werden Inhalte aus dem Kursunterricht im Klassenunterricht aufgegriffen bzw. unterstützt?
  • Erleichtert Kursunterricht die Arbeit in der Klasse?
  • bezogen auf Unterrichtsinhalte
  • bezogen auf Schülerverhalten
Hierzu wurde zum einen ein Lehrerfragebogen erstellt. Zum anderen wurden qualitative Untersuchungen von SchülerInnen hinsichtlich ihrer Lernfortschritte im Kursunterricht durchgeführt. Dazu wurde die Entwicklung einzelner exemplarischer SchülerInnen über mehrere Jahre anhand von Zeugnissen und Beobachtungen durch die Lehrerpersonen betrachtet.
 
 
Ergebnis der Evaluation
 
Die Auswertung des Lehrerfragebogens zeigt, dass die Zufriedenheit mit dem Kurssytem insgesamt relativ groß ist. Die LehrerInnen unterrichten bis auf wenige Ausnahmen gerne im Kurs (vgl. Abb. 2).  Sie sind annähernd mit der Schüler-Lehrer-Relation, der Gruppenzusammensetzung sowie der Relation zwischen Arbeitsaufwand und Lernerfolg zufrieden. Ein großer Teil äußert den Bedarf an Weiterbildungsmöglichkeiten und Austausch im Hinblick auf die Arbeit im Kurssystem (vgl. Abb. 3).
 
Nach Einschätzung der LehrerInnen kommt der überwiegende Teil der SchülerInnen gerne zum Kursunterricht und kann mit den Kursinhalten erreicht werden (vgl. Abb. 4). Im Rahmen der exemplarischen Entwicklungsberichte einzelner SchülerInnen wird zudem eine langfristige positive Auswirkung des Kursunterrichts auf die Lernentwicklung der untersuchten SchülerInnen deutlich. Dagegen gelingt es nach Einschätzung der KollegInnen nicht immer, für „schwierige SchülerInnen“ einen geeigneten Kurs zu finden. Mit dem Kursbildungsverfahren ist ein Teil nicht bzw. nur in Ansätzen zufrieden.
 
Aus Sicht der KlassenlehrerInnen wird die Arbeit in den Klassen erleichtert. Inhalte aus dem Kursunterricht können aufgegriffen werden (vgl. Abb. 5). Der Austausch zwischen Kurs- und Klassenlehrern wird nicht als optimal eingeschätzt, da viele KlassenlehrerInnen nur in etwa wissen, was ihre SchülerInnen z.Zt. im Kurs lernen.
 
5.2 Mögliche Veränderungen
 
In den Untersuchungen stellte sich in verschiedenen Bereichen ein Bedarf nach Optimierung heraus. Mögliche Veränderungen sollen in der nächsten Zeit erarbeitet werden. Denkbar wäre ein systematischeres Vorgehen im Rahmen des Kursbildungsverfahrens. Mithilfe eines bereits angelegten standartisierten Schülerbogens und einer differenzierteren Definition des aktuellen Kursniveaus kann die Homogenität der Lernguppen möglicherweise noch verbessert werden.
 
Zudem wurde bereits darüber nachgedacht, bei der nächsten Kursbildung einen neuen Kurs einzurichten, in dem die Förderung der SchülerInnen nicht primär in den Kulturtechniken, sondern auch in anderen Bereichen erfolgen soll. So könnten v.a. ältere SchülerInnen, bei denen über Jahre hinweg nur geringe Lernfortschritte in den Kulturtechniken beobachtet werden konnten, eine gezielte Förderung z.B. im lebenspraktischen Bereich erhalten. Dies hätte zudem den Vorteil, dass die übrigen, z.T. zu vollen Kurse entzerrt werden könnten.
 
Der Bedarf nach Weiterbildung und Austausch der KollegInnen sollte noch einmal genauer erfragt werden, um in konkrete Maßnahmen umgesetzt werden zu können. Denkbar wären z.B. die Erweiterung der Lehrerbibliothek, die Einrichtung von Fachkonferenzen oder schulinterne Fortbildungsangebote.
 

7 Literatur

Meyer, H.: Unterrichtsmethoden I. Theorieband. Frankfurt a.M. 1994.
 
TWS Arbeitsgruppe Familienklassen: Familienklassenkonzept. Essen 2002.
 
TWS Arbeitsgruppe Kurssystem: Evaluation des Kurssystems. Essen 2004

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Zuletzt aktualisiert von MME-Computertechnik am 07.04.2006, 21:29:00.