Artikel im Themenheft "Familienklassen" der Zeitschrift Lernen Konkret![]()
Schüler mit Autismus sind „irgendwie anders“Daniel zum Beispiel:Allmorgendlich kommt er mit der Verschlusskappe einer Milchflasche zur Schule. Er dreht sie, vor seinen Augen haltend, ausdauernd zwischen seinen Fingern. Des weiteren liebt er das Verweilen im Flur, um das Kommen und Gehen in der Nachbarklasse zu beobachten. In ritualisierter Form grüßt er einzelne Mitschüler und Lehrer, bzw. kommentiert und begleitet die Arbeit der Küchenfrau, sobald diese die Frühstückskörbe bringt. Lange Zeit lehnte er jegliche Form der Unterrichtsteilnahme ab und wohnte dem Klassenunterricht in der Form bei, dass er am Fenster stand und hinaus schaute. Daniel zeigt Interesse für Auf- und Umräumarbeiten. Hier ist er in der Regel zur Mitarbeit zu bewegen. Die Arbeiten führt er dann sorgfältig aus. Mike zum Beispiel:Mike ist an verschiedenen Sachthemen sehr interessiert und erweitert sein diesbezügliches Wissen über das intensive Studium entsprechender, mit Bildern unterlegter Bücher. Zu seinen ausgesprochenen Vorlieben gehören Vögel, hier insbesondere Tauben, Eulen und Greifvögel. Tagtäglich verlässt er während des Klassenunterrichts mehrmals den Raum, um auf dem Schulhof auf Taubensuche zu gehen. Mit einem ausdauernden lauten Klatschen vertreibt er die in der Nähe befindlichen Tauben. Seine Themenbücher sind bei etwaigen Raumwechseln seine ständigen Begleiter. Burak zum Beispiel:Er ist ein temperamentvoller Junge, hat ein großes Bewegungsbedürfnis und äußert sein Wohlbefinden durch Klatschen, Schnipsen, Lautäußerungen und Lachen. Er läuft nahezu unentwegt durch den Raum, dreht sich hierbei im Kreis, beschreibt beliebig Richtungswechsel. Er wedelt gern und ausgiebig mit Bändern u.ä. vor den Augen. Wesley zum Beispiel:Zu seinen besonderen Fähigkeiten gehört sein sprachliches Ausdrucksvermögen. Unter Gebrauch eines ausgewählten Vokabulars spricht er viel. Er ist stark in seinen Gewohnheiten verhaftet und genießt die ausgiebige Beschäftigung mit selbst gewähltem Material in selbst bestimmter Weise. Schüler mit Autismus werden im schulischen Alltag in ihrem Verhalten als auffällig wahrgenommen. Aufgrund ihrer Störung in der Wahrnehmungsaufnahme und –verarbeitung zeigen sie verschiedene Merkmale wie
Demzufolge werden sie häufig als unbequem, arbeitsintensiv, belastend empfunden. Sie beeinträchtigen durch ihr Verhalten den regulären Unterrichtsablauf, binden vielfach die individuelle Aufmerksamkeit des Lehrers, fordern von den Mitschülern viel Verständnis und Geduld ein. Wir bieten ihnen im Unterricht:
Sie benötigen im Unterricht:
KurseinteilungZu Schuljahresbeginn wird die Einteilung der Schülerinnen und Schüler aus unterschiedlichen Familien- und Stufenklassen in die verschiedenen Kurse vollzogen.
Diese und ähnliche Fragen stellten sich in der Vergangenheit die Lehrerinnen und Lehrer bei der Überlegung, welchen Kursen die Schüler mit Autismus zugeordnet werden sollten. Letztendlich fiel die Entscheidung oftmals weniger aufgrund pädagogischer als vielmehr organisatorischer Überlegungen. Die Schüler nahmen am Kursunterricht teil und wurden von den jeweiligen Lehrerinnen und Lehrern mehr oder minder erfolgreich integriert bzw. zur aktiven Teilnahme angeregt. Kurs A u t i s m u sAls eine am Kursunterricht beteiligte Lehrerin brachte ich viele praktische Erfahrungen sowie theoretisches Wissen hinsichtlich des Unterrichts mit Schülern mit Autismus mit. So reifte der Gedanke, fortan ein spezielles Unterrichtsangebot für diese Schülergruppe zu unterbreiten. Ich erklärte mich bereit, für einen entsprechenden Kursunterricht zur Verfügung zu stehen. OrganisationDer Unterricht findet parallel zu den anderen Kursen zweimal wöchentlich für eine Dauer von jeweils zwei Unterrichtsstunden statt. Zwei Schüler werden von meiner Teamkollegin bzw. mir in ihrem Klassenraum abgeholt; zwei Schüler können den Weg zur Aula mit wenig Unterstützung zurück legen; drei Schüler kommen mittlerweile selbständig. (Sie wurden anfangs von Zivildienstleistenden begleitet.) SchülerzusammensetzungDem Unterricht gehören sieben Schülerinnen und Schüler an, sechs Jungen und ein Mädchen. Die Alterspanne reicht von 11;7 bis 18;8 Jahre. Ein Schüler weist nicht die Behinderung „Autismus“ auf. Er wurde der Gruppe zugeteilt, weil ihm aufgrund seiner Lernbedarfe das Lernangebot in dem Kurs am zuträglichsten ist. Die sieben Schüler kommen aus fünf verschiedenen Klassen. LehrerbesetzungVor einem Jahr konnte ich eine Kollegin für die gemeinsame Unterrichtung der Schülergruppe gewinnen. In dem davor liegenden Schuljahr hatte ich den Kurs mit Unterstützung eines sehr engagierten Zivildienstleistenden bei etwas niedrigerer Schülerstärke (fünf Personen) allein geleitet. Meine Kollegin weist ebenfalls fundierte Kenntnisse über das Behinderungsbild auf. Dazu gehört u.a. eine Qualifikation im Bereich der „Gestützten Kommunikation“. Wir arbeiten im team-teaching und tauschen uns intensiv sowohl hinsichtlich Unterrichtsplanung als auch Unterrichtsreflexion aus. Wir kannten die Schüler zum Teil bereits vor Beginn des Kurses. Von der Unterstützung durch einen Zivildienstleistenden sehen wir bewusst ab. Wir vertreten die Auffassung, dass ein „Mehr“ an Erwachsenen der pädagogischen Arbeit nicht grundsätzlich dienlich ist. Da der Unterricht mit Schülern mit Autismus sich in jedem Fall nur auf der Grundlage einer intakten, von großer Stabilität gekennzeichneten Beziehung vollziehen kann, lösen oftmals weitere, unterstützend tätige Personen Irritationen und Verunsicherung bei den Schülern aus. Rahmenbedingungen innerhalb des UnterrichtsDie Schüler bedürfen aufgrund ihres behinderungsspezifischen Verhaltens eines Lernumfeldes, das ihnen Sicherheit gewährt. Auf der Grundlage verlässlicher Strukturen benötigen sie Lernangebote, die sie einerseits in ihrer Entwicklung voran bringen, ihnen anderseits Raum lassen für ihre Wesensmerkmale. StrukturierungRäumliche StrukturierungDer Unterricht findet in der ca. 15 mal 16 Meter großen Aula statt. Es gibt verschiedene Funktionszonen: Stuhlkreis, Arbeitsbereich (am Gruppen- bzw. Einzeltisch), Bewegungsbereich, Musikbereich, Pausenmaterialbereich. (s. Skizze) Da der Aula verschiedene Funktionen zukommen, muss sie in der Regel vor Unterrichtsbeginn entsprechend hergerichtet werden. Bei größerem Umräumbedarf geschieht dies am Vortag durch die Zivildienstleistenden, ansonsten bewerkstelligen wir dies, jeweils zu Stundenbeginn, zu zweit. Diese Phase geht in die Ankunftszeit der Schüler über und wird musikalisch untermalt. Die Schüler kommen in Ruhe an, orientieren sich im Raum und haben die Möglichkeit, miteinander in Kontakt zu treten. Den Umstand des Umräumens empfinden wir mittlerweile durchaus als vorteilhaft. Infolgedessen belassen wir nämlich lediglich das Mobiliar in der Aula, das wir für unseren Unterricht benötigen. Hierdurch verschaffen wir den Schülern – und auch uns – eine eindeutige Klarheit. Den Schülern sind die verschiedenen Funktionsbereiche vertraut. Zeitliche StrukturierungDer Unterricht beginnt pünktlich und endet pünktlich mit dem Ertönen des Schulgongs. In ritualisierter Form werden im Unterrichtsverlauf verschiedene Lernbereiche (Stationen) in stets gleicher Reihenfolge durchlaufen. Es findet ein geregelter Wechsel zwischen Arbeits- und Pausenzeiten statt. Zu Stundenbeginn wird der Unterrichtsablauf besprochen, und es werden entsprechende Symbolkarten an die Magnettafel gehängt. (Hier Symbolkarten!) Nach Beendigung jeder Phase wird das jeweilige Symbol von einer Lehrerin umgedreht. Die Schüler akzeptieren, , dass die unter einem Bettlaken befindlichen Pausenmaterialien ausschließlich in den Pausen benutzt werden dürfen. Diese Sequenz wird jedesmal musikalisch untermalt. Personelle StrukturierungMeine Kollegin und ich teilen uns die Unterrichtsleitung. Die Federführung liegt an jeder Lernstation bei jeweils einer Lehrerin. Die andere unterstützt sie, indem sie einzelnen Schülern individuelle Hilfestellungen zur aktiven Teilnahme gibt. Darüber hinaus haben wir uns die Schüler „aufgeteilt“. Jeweils eine Lehrerin ist für drei bzw. vier Schüler zuständig, plant die Einzelarbeitsphasen und ist Hauptansprechperson. KommunikationDie Schüler weisen in sehr unterschiedlicher Form Störungen in ihrer Kommunikation auf. Sie präsentieren ein breites Spektrum an Sprachverständnis, Sprechfähigkeit und Sprechfreudigkeit. Ihnen allesamt gemein ist, dass sie in der konkreten Sprache verhaftet sind und eindeutiger Lehrersprache bedürfen. Demzufolge reduzieren wir unseren Sprachanteil auf das jeweils gebotene Maß. Wir vermeiden es, Sätze „auszuschmücken“, mehrgliedrige Anweisungen zu geben und die Schüler indirekt anzusprechen. Für diejenigen Unterrichtsinhalte, die sich in jeder Stunde wiederholen, wählen wir stets die gleichen Satzmuster. Im weiteren Kursverlauf, vorausgesetzt das entsprechende Sprachverständnis liegt vor, variieren wir unsere Sprache in Form veränderter Satzbauten und neuen Vokabulars. Wir ermutigen die Schüler dazu, sich entsprechend ihrer Möglichkeiten verbal oder nonverbal zu artikulieren. So erhalten sie insbesondere im Rahmen des Gesprächskreises Gelegenheit, sich kommunizierend zu äußern, egal ob sie der Lautsprache mächtig sind oder nicht. Erzieherisches HandelnUmgang mit Stereotypen und ZwängenWährend der Arbeitsphasen unterbinden wir stereotype Handlungen weitestmöglich. Zwängen wird, wenn erforderlich, kurzzeitig nachgegeben. Unser Anliegen ist es aber, den Schüler möglichst zügig wieder zum Thema zurückzuführen. In den Arbeitspausen können sich die Schüler ihren Vorlieben zuwenden. Das unter einem Tuch liegende Pausenmaterial wird aufgedeckt und steht den Schülern zur freien Beschäftigung zur Verfügung. Schüler mit einem großen Bewegungsbedürfnis laufen durch den Raum; andere spielen mit Bällen oder mit Perlen, malen, schauen aus dem Fenster u.ä.. Umgang mit Wutausbrüchen und AggressionenDiejenige Lehrerin, die in der jeweiligen Situation assistierend tätig ist, oder aber sich eher frei machen kann, wendet sich möglichst unmittelbar dem betreffenden Schüler zu. Auf dem Hintergrund einer guten Kenntnis des Schülers interveniert sie individuell unterschiedlich. So versucht sie ggf., ihm „Brücken“ zu bauen, ihn umzulenken, ein massives Verbot auszusprechen oder – wenn nötig - ihn vorübergehend zu separieren. FörderschwerpunkteDer Unterricht ist stark auf die individuellen Förderbedarfe ausgerichtet und orientiert sich an den Grundprinzipien für die Förderung von Menschen mit Autismus. Die Unterrichtsangebote stammen vornehmlich aus den Bereichen Kommunikation, Wahrnehmung, Soziales Lernen, Handlungskompetenz, Kognition. Auf der Grundlage förderdiagnostischer Untersuchungen (Entwicklungs- und Verhaltensprofil PEP-R bzw. AAPEP) erfassen wir den Entwicklungsstand in verschiedenen Funktionsbereichen. Ein besonderes unterrichtliches Anliegen ist uns, die individuellen kognitiven Fähigkeiten bei der Wahl der Lerninhalte zu berücksichtigen. U n t e r i c h t s b e i s p i e l
AusblickSchüler mit Autismus sind „irgendwie anders“ – einerseits. Andererseits zeigen sie so viele Merkmale und Verhaltensweisen, die spätestens „auf den zweiten Blick“ doch vielfach denen von Schülern mit anderen Behinderungen ähneln.
Können wir die Fragen bejahen, zeigen wir zudem Experimentierfreude, Einfallsreichtum, Phantasie, so sollten wir uns in das spannende Unterrichtsfeld Kursunterricht A u t i s m u s hinein begeben.
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